Märchen vom kleinen Traum
(von Chris Wunderlich)
Es war einmal…
Vielleicht gestern oder heute oder vor langer Zeit. Das spielt keine Rolle in unserem Märchen. Jeder kann dieses Märchen erleben, egal wann und wie alt er ist.
Das Traumland war weit weg und der Morgen brach an. Sahir war einsam und wusste nicht, wohin er nun sollte. Die Sonne ging auf, und dahin wo er her kam, konnte er nicht zurück. Seine Aufgabe hatte er nicht erledigen können, doch seine Schuld war es nicht gewesen. Aber man hatte ihm nie gesagt, was er tun solle, wenn seine Aufgabe nicht zu erledigen war. Dabei war er doch so kurz davor gewesen…
Sahir war kein Mensch. Er war ein Traum. Auch seine Eltern waren Träume gewesen, die ihn im Traumland aufgezogen hatten und ihm alles beibrachten, was ein kleiner Traum wissen muss. So lernte er, wie man in den Schlaf der Menschen kommt, ihre Gefühle berührt und wie man aufpasst, dass man selbst kein Alptraum wird.
Sahir erfuhr auch, dass jeder Traum einmalig ist. Nur für einen Menschen und nur zu einer ganz bestimmten Zeit. Aus diesem Grund schillerte im Traumland auch jeder Traum in einer anderen Farbe. Sogar die Form der Träume war jedes mal unterschiedlich. Sahir ähnelte einer Seifenblase. Manchmal war er durchsichtig, manchmal leuchtete er in allen Farben. Dann sah er aus wie ein Regenbogen oder wie die Farbpalette eine Malers.
Was er für ein Traum war, wusste er nicht. Aber er hoffte, dass der Mensch sich lange freudig an ihn erinnern würde. Ein Alptraum war er sicher nicht, denn Sahir versuchte alles so zu tun, wie seine Eltern und seine Lehrer es wollten, auch wenn es oft schwer oder langweilig schien.
Doch nun wusste er nicht, was er machen sollte. Der Mensch, dessen Traum er hätte sein sollen, war zu früh aufgewacht. Der Wecker hatte zu früh geklingelt.
Krampfhaft überlegte Sahir, was seine Lehrerin in „Traumübermittlung“, die Traumfee Agifa, ihm damals über solche Situationen erzählte. Wenn er nur zugehört hätte… (Irgendwie war das Gespräch mit dem jungen, hübschen Tagtraum neben ihm interessanter gewesen.) Sagte Agifa nicht etwas von den Schlafläusen, die in den Kissen und Bettdecken der Menschen leben? Ja, sie hatte gesagt, man solle dann mit denen sprechen, denn die Schlafläuse sammeln die Gedanken der Menschen. Dann schicken sie diese mit der Traumpost zu den Traumfeen. Die Traumfeen wiederum warten, bis im Traumland genau diese Träume geboren werden. So können sie die Träume zu den richtigen Menschen schicken.
Ganz langsam ließ sich Sahir auf das Bett herunter gleiten. Er flog um das Kopfkissen, schaute darunter und darauf. Es war keine Spur von den Schlafläusen, doch wie er wusste, verstecken die sich sehr, sehr gut… Sie sind nämlich sehr schüchtern und oft auch unfreundlich. Schlafläuse haben eben viel Arbeit und wollen dabei nicht gestört werden.
So suchte er weiter und plötzlich hörte er eine leise Stimme hinter sich:
„Was machst du denn hier?“
„Ich weiß nicht wohin ich gehen soll,…“, sagte Sahir und drehte sich um sich selbst, bis er die Schlaflaus endlich sah. „…denn der Mensch, zu dem ich sollte ist zu früh aufgewacht.“
„Herrjemine“, sagte die Schlaflaus, “das wird schwierig…“
Die Schlaflaus kratzte sich nachdenklich mit dem rechtem Hinterbein hinter dem Ohr. Sahir wusste, dass Schlafläuse vier Beine haben und sie können sogar mit allen vier Beinen schreiben. Wie sollten sie sonst die Gedanken aufschreiben, wenn bei so vielen Menschen die Gedanken so wahnsinnig schnell wieder verschwinden.
„Na ja,“, sagte die Schlaflaus, „du musst einen großen oder kleinen Menschen finden, der so traurig ist, dass er keine Träume mehr hat. Dann kannst du ihm deinen Traum schenken und du wirst zurück nach Hause kommen.“
Die Schlaflaus verschwand wieder. Ohne Abschiedsgruß war sie weg. So sind Schlafläuse eben: unhöflich und immer in Eile.
Sahir grübelte. Wo finde ich einen Menschen, der keine Träume hat? Er seufzte leise, sehnte sich nach zu Hause und nach seinen Eltern. Ob sie wohl gerade an ihn dachten?
Er begann durch das Haus zu fliegen. Still, ganz leise und ohne, dass ihn jemand sehen konnte. Er fand viele träumende Menschen: Männer, die von ihren Frauen träumten, Kinder, die mit SpongeBob durchs Wasser schwammen.
So ging es weiter. Überall hatten die Menschen schon Träume: lustige, traurige, bunte, farblose Träume.
Die Sonne stieg hoch, wanderte über den Himmel bis der Tag wieder verging.
Doch irgendwann hörte er Geschrei. Eilig flog er dorthin und sah, wie ein Kind, ein kleiner Junge, von seinen Eltern bestraft wurde. Sie schlugen es und das Kind weinte bitterlich. Sahir tat der Junge leid. Was muss das der Junge wohl angestellt haben, dass man ihn so bestrafte? Seine Eltern hatten das nie getan und doch wurde aus ihm ein guter Traum. Agifa, seine Lehrerin, hatte ihnen auch einmal erklärt, dass Träume, die man ohne Grund und zu hart bestraft, zu Alpträumen werden. „Ist das nicht bei Kindern genauso?“, fragte sich Sahir still, als er sah, wie der Junge in sein Bett geschickt und in seinem Zimmer eingeschlossen wurde. Die Tränen liefen dem Jungen über das Gesicht und er schluchzte herzzerreißend.
Sahir wartete traurig, bis der Junge sich in den Schlaf geweint hatte.
Ganz langsam kroch Sahir unter die Augenlider des kleinen Menschen. Er spürte die Freude des Kindes, als es anfing vom Traumland und all den Feen und bunten Träumen zu träumen. Sahir spürte, wie ruhig das Kind wurde und wie die Sorgen des Tages wie weggeblasen waren.
Und plötzlich, wie durch ein Wunder, verschwand Sahir und tauchte kurze Zeit später im Traumland wieder auf. Seine Eltern waren glücklich und er war es auch, obwohl er nicht mehr in den Farben des Regenbogens schillerte. Doch er war glücklich, denn er wusste, dass dieser Mensch ihn nie vergessen wird.
Das ist wirklich ein wunderschönes Märchen…hat mich sehr berührt.
mandra
Vielen Dank 🙂