Juche (oder Chuch’e) – Die nordkoreanische Ideologie (4)

Nachdem der Krieg 1953 in einem Waffenstillstandsabkommen endete, war eigentlich territorial nichts geschehen. Beide Staaten befanden sich wieder in den Grenzen von 1950. Doch beiden Ländern waren enorme seelische, menschliche und wirtschaftliche Wunden geschlagen: Circa drei Millionen Zivilisten, plus circa eine Million Soldaten ließen ihr Leben in diesem Krieg1. Beide Länder waren in Schutt und Asche gebombt worden. Als würde das nicht genügen, gab es auch noch auf allen Seiten grausame Massaker, wie in meinem vorherigen Beitrag bereits aufgezeigt2, deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind.

Ideologisch herrschte auch nach dem Krieg in Südkorea der Kapitalismus, sowie die politischen Ideen der damaligen USA. So gab es auch nach dem Krieg noch Diffamierungen und Verfolgungen von linksorientierten Menschen. Die sogenannten „Kommunistenverfolgungen“ zogen sich bis in die achtziger Jahre noch hin. Aber dazu an anderer Stelle mehr.

In Nordkorea stützte man sich weiter auf das marxistisch-leninistische System der UDSSR. Doch als Josef Stalin am 5. März 1953 in Kunzewo starb3 entstand eine Leere, die es auszufüllen galt. Je mehr man in der UdSSR von Stalins Regime abrückte, desto mehr wurde dies zu einer Gefahr für Nordkorea, aber besonders für Kim Il-sung. Stalin infrage zu stellen impliziert, dass auch Kim infrage hätte gestellt werden können.

Aus diesem Grund kam es 1955 zum einer Rede Kim Il-Sungs, worin er zum ersten Mal Juche (gespr. Chu-tschä), die Weiterentwicklung des Marxismus, vorstellte. Offiziell zur Staatsideologie erhoben wurde sie dann im Jahre 19774 und gilt seitdem bis zum heutigen Tag.

Doch worum geht es konkret in Juche? Was unterscheidet Juche vom Marxismus-Leninismus?

In Wikipedia lesen wir folgendes:

Kern der Ideologie ist, dass die Interessen der eigenen Nation über denen der internationalen kommunistischen Bewegung stehen und dass ein „Arbeiterführer“ die Gesellschaft transformieren muss. […; gekürzt von C.S.Wunderlich] Nach dieser Auffassung ist der klassische Marxismus-Leninismus in seinen „historischen Grenzen“ gefangen, die Chuch’e-Ideologie jedoch ewig.

Dieser Ideologie zufolge muss jede Nation die gesellschaftliche Revolution eigenständig vorantreiben. Die drei Prinzipien der Chuch’e-Ideologie sind:

  1. Politische Souveränität (chachu, 자주)

  2. Wirtschaftliche Selbstversorgung (charib, 자립)

  3. Militärische Eigenständigkeit (chawi, 자위)

Der Staat hat demnach die Aufgabe, politische, wirtschaftliche und militärische Unabhängigkeit zu gewährleisten. […; gekürzt von C.S.Wunderlich] Der Mensch steht laut Chuch’e-Ideologie in der Position eines Gestalters und Herrschers der Welt. Jedoch müsse sich der einzelne Mensch den Volksmassen unterordnen, da er sich nur in der Gruppe entfalten könne. Die Volksmassen wiederum sollen durch die Partei und den Führer geleitet werden. In der Chuch’e-Ideologie ist der Mensch zwar Subjekt, doch wird von ihm bedingungslose Loyalität gefordert.

[…; gekürzt von C.S.Wunderlich]

Als weiteren Unterschied zum klassischen Marxismus-Leninismus betonen Chuch’e-Anhänger die Einbeziehung der Intellektuellen. So zeigt das Emblem der Partei der Arbeit Koreas Pinsel, Hammer und Sichel: Der Hammer steht für die Arbeiterklasse, die Sichel für die Bauernschaft und der Pinsel für die Intellektuellen.5

Etwas oberflächlich, aber als Einstieg ganz gut. Doch im Folgenden möchte ich etwas tiefer in die Theorie des Juche eindringen. Eventuelle Fehler möge man mir vergeben, da ich nicht mehr als Grundkenntnisse zum Marxismus-Leninismus habe.

In der Juche-Ideologie sind die Volksmassen der Herr in der Revolution und im Aufbau6. Der Einzelne ist der Herr seines Schicksal, denn (anders als im Marxismus-Leninismus) formt der Mensch durch sein Bewusstsein die Gesellschaft.

Erinnern wir uns an Marx, der formulierte „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, also die wirtschaftlichen Umstände und Gegebenheiten machen den Menschen zu dem, was er ist. Der einzelne wird vom Wirtschaftssystem determiniert und wird dieses erst überwinden, wenn der materielle Druck zu groß wird. So begründet der Marxismus-Leninismus die Theorie des Materialismus.

Dagegen formuliert Juche einen Idealismus, der das Bewusstsein als Bestimmer des Seins setzt. Man hat das Gefühl, Marx und Engels wollten die Philosophie vom Kopf auf die Füße stellen, während Juche die Philosophie auf die Seite legt… Es ist irgendwie der Mittelweg und doch etwas ganz anderes…

Drei Attribute machen den Menschen aus und begründen diesen Idealismus:

1. Chajuson, die Souveränität

2. Uisiksong, das Bewusstsein

3. Changjosong, das Schöpfertum

Cha’jusong wird charakterisiert als: „…für den Menschen als gesellschaftliches Wesen der Lebensnerv“7, wie Cho Hang-Gu sagt. Hat der Marxismus nicht erklären können, WIESO der Mensch arbeitet, so tut das Juche.

Kim Jong-il zufolge gestaltet nicht der Mensch, sondern das Schöpfertum die Welt zielbewußt. “Diese Eigenschaft befähigt“ den Menschen “ dazu, Altes zu verändern, Neues zu schaffen und sich dadurch die Natur und die Gesellschaft immer nutzbarer, verwertbarer zu machen.“ Dank der Eigenschaft des Bewußtseins sei der Mensch imstande, “die Natur und Gesellschaft nach seinen Bedürfnissen zu gestalten und weiterzuentwickeln.“8

Kommen wir zum „…Subjekt der gesellschaftlichen Bewegung…“, der Volksmasse. „Kim Jong-il sagte, ohne das Leben der gesellschaftlichen Gemeinde könne es das Leben des Individuums nicht geben.“9 Das Schöpfertum des Menschen scheint also nur in der Gemeinschaft realisierbar zu sein. So wird die Volksmasse zum alleinigen Träger jeder Revolution, doch, anders als im Marxismus, handelt die Volksmasse bewusst. Nicht der Druck der wirtschaftlichen Gegebenheiten, sondern die bewusste Entscheidung führt zu einer Veränderung der Gesellschaft. In jeder Revolution geht es also um das Selbstbewusstsein der Volksmasse. Diese wiederum sollte, wie nach Lenin, von einer revolutionären marxistischen Partei geführt werden.

Diese notwendige ‘Masse von Bewußtheit’ bedeutet für Lenin nichts anderes als eine revolutionäre marxistische Partei, die die führende und organisierende Kraft der Arbeiterbewegung in sich enthält. Nach Lenin kann nur diese Partei das Bewußtsein der Arbeiterklasse zum sozialistischen Bewußtsein machen.10

Diese marxistische Partei hat die Aufgabe, der Volksmasse den Kommunismus „einzupaucken11“. Anders ausgedrückt: Die Bildung der Volksmasse hat Priorität, denn nur so bleibt das Selbstbewusstsein stabil und die Revolution kann permanent voranschreiten. So sagt auch Kim Il-Jong:

Die Menschen politisch und ideologisch wachzurütteln und auf diesem Wege alles zu meistern – das ist eine unerschütterliche Garantie für den Triumph der Revolution und des Aufbaus.12

Doch kommen wir zu dem Teil der Juche-Theorie, der zum Verständnis der aktuellen Vorgänge vielleicht am wichtigsten ist: Dem Führer der Volksmassen. Der Kern der Ideologie ist der Führer, der das Hirn der Gesellschaft darstellt. Wie der Mensch ein Hirn braucht, um denken und bewusst handeln zu können, so brauche auch eine Gesellschaft ein Gehirn.

Der Führer sei der Schrittmacher des Kommunismus, der die Revolution leiten sollte. Die beständige Treue zum Führer sei die Voraussetzung für den Sieg der revolutionären Bewegung.13

Das philosophische Prinzip der Chuch’e-Ideologie, daß der Mensch über alles entscheidet und der Herr aller ist, werde nicht von sich selbst aus verwirklicht, sondern könne sich nur unter der Führung des Führers verwirklichen. Daß die Volksmassen im Kampf der Revolution nur unter der Führung des Führers siegen könnten, zeige die lange Geschichte des Kampfes der Volksmassen.14

Geht es im Marxismus-Leninismus um die Führungsrolle der sozialistischen Partei, so betont Juche die Führung durch ein Individuum. Dieser Führer (koreanisch „Suryòng“, ein Begriff, der vom deutschen Führerbegriff zu unterscheiden ist.) ist der „…Vater der Volksmassen…“15 oder, wie bereits gesagt, das Hirn des gesellschaftlichen Organismus.

Betrachten wir zum Schluss noch den Begriff Vater. Der Vater ist in patriarchalen Gesellschaften meist der Vorstand einer Familie, sowie der Ernährer. Er trägt die Verantwortung für das Verhalten und die Entwicklung seiner Familie, insbesondere seiner Kinder. In einer Gesellschaft, in der dazu noch die Kollektivschuld gilt, wie in der Koreanischen, würde die Schande eines Familienmitgliedes zur Schande der gesamten Familie führen. Sieht man nun die Gesellschaft als Organismus, so trägt der „Vater“ dieser Volksmassen auch die Verantwortung.

Damit sollten wir die Vorarbeiten zum Verständnis der aktuellen Situation in Nordkorea abgeschlossen haben. Sicherlich sind mir Fehler unterlaufen, die der aufmerksame Leser mit bitte mitteilen möge. Einige sind dem Mangel an gutem Material zu Juche geschuldet, doch die werde ich noch nachträglich versuchen zu beheben.

2„Hinter dem Spiel – Der Koreakrieg und seine Verbrechen (3)“ http://existenzspuren.de/?p=1339

7 Ebenda,

8 Ebenda.

9Ebenda.

10Ebenda, S. 6.

11a.a.O.

12Ebenda., S. 6 f.

13Ebenda., S. 7.

14Ebenda., S. 7.

15Ebdenda., S. 8.

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