• Fr. Apr 19th, 2024

Existenzspuren

Jedes Leben und jeder Gedanke hinterlassen ExistenzSpuren...

Herbsttag

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin,
und jage die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke, 21.9.1902, Paris

Manche Tage fühle ich mich alt. Einundvierzig Jahre lebe ich nun schon. Gab man mir nach der Geburt nur eine Lebensprognose von wenigen Tagen, kämpfte ich mich doch immer weiter, überstand unzählige Knochenbrüche und Atemwegserkrankungen. Die Schule fiel mir leicht. Wenn ich scheiterte, dann meist an meiner eigenen Faulheit. Wo ich hinkam, was ich auch anfasste, es wurde mit Bewunderung quittiert. Ein Behinderter, der etwas leistet, ist etwas besonderes. Er gilt als Überraschung, als Vorbild, als Motivation für „die Gesunden“, was auch immer das ist. Seine Besonderheit öffnet Türen, schafft Möglichkeiten, die andere Menschen nicht haben. Brauchte ich einen Termin beim Arzt, bekam ich ihn zeitnah. Musste ich ins Krankenhaus, war ich meist Sache des Chefarztes oder wenigstens des Oberarztes. Gleiches galt für den Umgang mit Behörden. Meine Behinderung machte mich zum Privilegierten.

Nun bin ich fast 42 Jahre alt. Etwas ändert sich. Manche Tage fühle ich mich sehr alt. Nicht nur körperlich, sondern auch gesellschaftlich ändert sich etwas. Ich bin nichts besonderes mehr. Verliere mit jedem Jahr mehr Privilegien. Mit zweiundvierzig ist man nicht mehr süß oder begabt. Es geschieht ein Ankommen in der Realität. Wartezeiten beim Arzt werden länger, Amtswege schwieriger. Aus becircen wird kämpfen. Aus Sicherheit wird Zweifel. Aus der jugendlichen Überzeugung die Welt retten zu müssen und zu können, wird die Hoffnung, dass man wenigstens seine Umgebung etwas besser hinterlassen kann. Aus der überschwänglichen Liebe zu Gott, wird täglich mehr die Hoffnung auf Seine Vergebung und das stille, tiefe Betteln um Gnade, wenn man abberufen wird.

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