• Sa. Apr 20th, 2024

Existenzspuren

Jedes Leben und jeder Gedanke hinterlassen ExistenzSpuren...

Der Hafen der Sehnsucht

Am Ende der Welt, wo nur noch das grelle Licht und die tiefsten Träume hingelangen, liegt der Hafen der Sehnsucht. Mit dem bloßen Auge nicht zu finden, treffen sich dort in jedem Frühjahr die Eisfeen dieser Welt. Wenn es im Rest der Welt taut und mit jedem Tag ein wenig wärmer wird, versammeln sie sich im Hafen und erzählen sich ihre Erlebnisse. Nur wenige Menschen waren je an diesem Ort. Noch weniger Zuschauer durften jemals an einem dieser Treffen teilhaben. Woher sollten wir auch sonst davon wissen und erzählen können?

Auch in dem Jahr, in dem unser Märchen spielt, reisten zum Ende des Winters wieder unzählige Eisfeen an. Der ganze Hafen glitzerte und funkelte, denn in den Kristallkörpern der Feen brach sich das Licht der Sonne, wie in einem Edelstein. Ein prachtvoller Anblick, der nur vom Versammlungsort selbst übertroffen werden konnte.

Denn dieser ist eine Eiskristallhöhle, deren Größe nicht bestimmbar zu sein scheint. Wie eine Hoffnung keine Grenzen kennt, so auch diese Höhle, denn sie passt sich der Zahl ihrer Gäste an. Das Licht einer einzigen Kerze genügt, um die gesamte Höhle zu erhellen, denn die glitzernden, strahlenden Kristalle lassen keinen Lichtstrahl auf seiner Bahn jemals schwächer werden. Alles andere sei der Phantasie des Lesers überlassen, denn zu beschreiben ist solche Schönheit kaum.

Nun reisten die Eisfeen also an und die Kristallhöhle füllte sich mit Leben. Täglich trafen neue Gäste ein. Große, kleine, dicke, dünne, alte und junge Eisfeen, ja sogar welche, die sonst nur in der Nacht raus kommen. Diese kamen nämlich aus Afrika, wo es nur in der tiefsten Nacht kalt genug ist. Doch Sehnsucht macht eben auch vor dem heißen Kontinent keinen Halt. Am lustigsten waren die Polfeen, denn in ihrer Gegend ist es immer kalt und es gibt nur wenige Menschen, also auch weniger Sehnsucht.

Eigentlich beginnt unser Märchen erst jetzt, also in dem Augenblick, als alle Feen eingetroffen waren.

Eine alte Tradition besagt, dass sich die Feen gegenseitig ihre Erlebnisse erzählen. Diese sammeln sie seit nicht mehr erinnerbaren Zeiten in einem Buch, was sie liebevoll „Sehnsuchtsbuch“ nennen. Das zauberhafte daran ist, dass diese Geschichten, stehen sie erst in dem Buch geschrieben, aus dem Gedächtnis der erzählenden Fee für immer verschwinden. Doch davon soll ein anderes Märchen berichten…

1. Erzählung

Es geschah also, dass die erste Fee leise und melancholisch, doch deutlich zu vernehmen, mit sprechen begann. Sie erzählte von einem kleinen, krummen Mann, dessen Sehnsucht sie mitten im stärksten Schneefall an einer Straße traf. Jede Schneeflocke zog ihn tiefer in die Erinnerung an die Frau, die so unglaublich liebte und vermisste. „Doch seine Sehnsucht war nicht nur Traurigkeit.“, erzählte die Fee mit leuchtenden Augen. „Er war fest davon überzeugt, dass sie ihn ebenfalls liebte und ihre Gedanken bei ihm waren, so oft es ihr möglich war. Seine Sehnsucht verhinderte dies natürlich nicht. Ihm fehlten ihre strahlenden Augen, wenn sie ihn anschaute oder bei einer Tätigkeit betrachtete. Selig verzückt war ihr Lächeln dann, wie das eines Sterbenden, dessen Herz bereits fest bei Gott ist. Ihre Lippen zeigten sich in seiner Phantasie. Zart waren sie, ihre Schmalheit empfand er als ungemein sinnlich. Etwas sanfteres, als diese Lippen, hatte nie an seinem Körper spüren dürfen. Ebenso ihre Finger, die wie ein Hauch über seine Haut gleiten konnten. Sie formten seinen krummen Körper neu, ließen ihn wunderschön werden, bei jeder Berührung. Er erfühlte sich, als wäre ein Panzer von ihm genommen. So brachen alte Wunden auf, doch schlossen sie sich durch ihre Berührungen innerhalb weniger Augenblicke wieder… Ich spürte, wie Sehnsucht und Glück gegeneinander drängten und sich irgendwann miteinander verbanden.“

Die Fee machte eine kleine Pause, besann sich und erzählte fort: „Er musste daran denken, wie sie miteinander schliefen. Sie glücklich zu machen war ihm in diesem Momenten das Wichtigste. Da wurde es ihm schmerzlich bewusst, wie häufig es ihm nicht oft gelungen war, denn ihr Kopf wurzelte noch mit einem kleinen Teil an einem anderen Ort… So versunken in seine Phantasie, die für einen kurzen Moment die Sehnsucht erträglich machte, spürte er nicht mal den Schnee auf seiner Haut. Die Kälte biss in seinen Körper, doch er glühte vor unerfüllter Liebe. So erfror er mit strahlenden, glücklichen Augen und es blieb nur die Erinnerung an seine Sehnsucht, die ich euch nun schenke…“

2. Erzählung

Eine zweite Fee ergriff das Wort, doch ihr spürte man an, wie schwer die Erzählung ihr fiel. „Meine Geschichte handelt von einer Frau. Viel hatte sie ertragen müssen, bis sie einen Freund fand, mit dem sie alt werden wollte. Doch auch mit ihm hielt das Glück nicht Einzug. Sie liebte ihn, war ihm dankbar für seine Nähe und Beistand, wenn die Schatten ihrer Vergangenheit mal wieder zu sehr spukten. Sie wurde zufrieden mit ihrem Leben, doch in ihr wuchs eine Sehnsucht. Eine Sehnsucht nach einem Mann, der ihre Liebe war, als sie sich auf dem Sprung zur Frau befand. Er war anders, als alle Männer, die sie kannte. Doch damals machten seine und ihre Schatten diese Liebe unmöglich. Vergessen hatten sie sich sowenig, wie sie je aufgehört hatten sich zu lieben.

Ihre Sehnsucht reifte im Laufe der Jahre weiter, sodass ich sie an einem Winterabend, beim vereisen eines ihrer Fensters spüren konnte. Sie saß da, las in dem Buch, was er allein für sie geschrieben hatte. Die Tränen rannen über ihre Wange, denn sie war einige Tage vorher, nach neun Jahren, wieder bei ihm gewesen. Gustav, ihre derzeitige Beziehung, wollte sie für die Liebe ihres Lebens aufgeben. Die Liebe ihres Lebens, er hieß Sahir, war immer noch, wie sie ihn in ihrer Erinnerung bewahrt hatte. Sie verbrachte sechs traumhafte Tage bei ihm, vergaß alles um sich herum, ließ die Schatten hinter sich und spürte, wie stark ihre Liebe noch immer war.

Doch irgendwann musste sie wieder fahren. Gustav erwartete sie und schwor ihr seine Liebe und gelobte, all die Dinge zu ändern, die ihr so schwer auf der Seele lagen. So stand sie zwischen zwei Stühlen, denn beide Männer liebten sie und sie liebte beide Männer. Mit Gustav würde alles so bleiben, wie es war, vielleicht besser werden. Mit Sahir würde sich alles ändern, auch wenn er ihr es so leicht machen wollte, wie er konnte. Er würde ihr die Sterne vom Himmel holen, und doch war da eine gewisse, unbestimmbare Angst in ihr. Veränderungen machen einem Menschen immer Angst, meine liebe Feenschwester, doch in ihr wuch diese fast zu Panik, bis sie nicht mehr zwischen den Stühlen stand, sondern sich dazwischen eingeklemmt fühlte. Sie schaffte es nicht, eine endgültige Entscheidung zu treffen, wollte gerecht zu Gustav sein, der sich soviel Mühe gab und der so zerbrechlich war. So zog sie sich von Sahir zurück. Doch tief in ihrem Herzen hoffte sie, etwas würde ihr die Entscheidung abnehmen, würde es ihr leichter machen. Sie wusste, die Zeit würde über ihren Weg entscheiden, auch wenn ihre Seele schon gewählt hatte: Sie liebte Sahir.

Leider konnte auch ich ihr nicht helfen, außer Sahirs Buch anzuhauchen, damit sie immer beim lesen das Glück spüren möge, was sie mit ihm zusammen empfand. Wenn sie ihn berührte, betrachtete oder einfach nur seiner Stimme lauschte….“

3. Erzählung

(Dank an Ralph R.,

dessen Idee mir den Rahmen für dieses Märchen gab.)

Die letzte Eisfee an diesem Tag erhob ihre Stimme: „Meine Geschichte habe ich nicht selbst erlebt. Eine kleine Fee schrieb sie mir vor einigen Wochen auf, denn sie wußte, dass sie zu schwach sein würde, um vor dem Frühling zu fliehen… Erlaubt, dass ich sie euch vorlese:

Der Sommer naht. Ich muss gehen, sagte die kleine Eisfee zum traurigen Dichter. Da wurde er noch trauriger.

Du könntest bei mir im Gefrierschrank wohnen, bis es draußen wieder kälter wird, schlug er vor.

Die Eisfee guckte in den Gefrierschrank. ‚Schön kalt hier. Da kann ich es aushalten.‘ Der kleine Dichter schloss die Tür.

Da klopfte die kleine Eisfee von innen. ‚Was ist denn?‘, fragte der kleine Dichter.

‚Ich kann den Lichtschalter nicht finden. Hier ist es ja stockfinster!‘, rief die kleine Eisfee von drinnen.

Der kleine Dichter öffnete die Tür wieder.

‚Ich glaube, das wird nichts.‘ , sagte er und fragte: ‚Hast du eine bessere Idee? Wo wo hast du denn bisher im Sommer gewohnt?‘

‚Ich bin im ersten Frost geboren. Vorher gab es mich noch nicht.‘

Der kleine, traurige Dichter wunderte sich: gehen die Eisfeen nicht in am Ende des Winters in den Hafen der Sehnsucht, bis die Welt wieder bereit für sie ist? Und wieso wurde diese Fee gerade erst geboren? Lebten sie nicht seit Jahrtausenden?

Die kleine Eisfee konnte seine Gedanken lesen und erzählte leise: In eurer Welt sterben die Eisfeen. Ihr lebt eure Sehnsucht nicht mehr aus, ihr verdrängt sie mit Internet, Drogen, Alkohol oder Sex. Vor tiefen Gefühlen habt ihr Angst, lasst sie nicht mehr zu. Selbst die Liebe genießt ihr nur noch in kleinen Dosen, denn tiefe Liebe erfordert Opfer. Du bist der erste Mensch seit langer Zeit, der sich erlaubt Sehnsucht zu empfinden. So wurde ich geboren… Die erste junge Eisfee seit tausenden von Jahren.’“

Die Eisfee schloss ihre Geschichte. Die Eiskristallhöhle war erfüllt von Stille, denn die Geburt und der Tod einer Eisfee kamen nur alle tausend Jahre vor. Jede der anwesenden Feen wusste, dass dies die ersten Augenblicke einer neuen Zeit waren, in der tiefe Gefühle keine Rolle mehr spielen werden…

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